Mein zweites Ich – Der Uchi-Deshi

Während ich noch beim Frühstück sitze, hat Bülent Karaman, unser Doppelweltmeister aus Berlin, bereits die ersten Einheiten drin, nach denen ich sicherlich in ein Wachkoma fallen würde. Die Oberkörperweste die der Champ zusätzlich verwendet, sorgt für Kraft im Körperzentrum, beim Militär nennen wir Ausbilder das, die so genannte „core strength“. Diese ist wichtig für einen festen Stand und sie sorgt zudem für Schnellkraft und Ausdauer!

Einheiten mit bis zu 20kg mehr auf dem Puckel und Ihr wisst, wo der Hase langläuft.
Mir bleibt erstmal noch das reguläre Training OHNE Zusatzgewichte. Zum Glück.
Steigern kann ich mich später immer noch, wenn ich das reguläre Training ohne Mühen überstehen kann.

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Bülent ist ein Blaugurt Stufe 1, im Kyokushin Karate und zweifacher Weltmeister, in bester Wettkampfform. Wenn ich damals bei seinem Prüfungskumite nicht selbst dabei gewesen wäre, ich hätte Erzählungen darüber nicht geglaubt.

Wenn ein solcher Riese zu wanken anfängt, macht einem das schon sehr nachdenklich. Ich war so mitgerissen von dieser Willenskraft und Stärke, das ich regelrecht mitgelitten habe, wurde er von weiteren Schlägen und Tritten seiner Angreifer getroffen. Die letzten Sekunden seines Kumites haben das Dojo zum Kochen gebracht. Niemanden hat es mehr zurückgehalten – ein Chor von Stimmen rief ihm Mut zu und er hat es wirklich geschafft. Wir alle haben es es gesehen. Selbst ich war wie elektrisiert von der Stimmung im Raum und von dieser unglaublichen Leistung!

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Bülent hatte mir Mut gemacht, das Angebot von Großmeister Tasev anzunehmen und Schüler des Kyokushin Karate zu werden.

„Wenn Du gelernt hast die Schläge und Schmerzen die Dir Dein Gegner zufügt, mit einem Lächeln, stehend, hinzunehmen, bist Du bereit für das Kumite und Dein Gegner bereit für seine Niederlage.“

Lasst Euch diesen Satz mal auf der Zunge zergehen.

Als der Champ mir diese Worte mitgab, saß ich in seinem Auto und sie waren der Ausklang eines guten Gesprächs. Der Satz wirkt immer noch nach und ich bin mir sicher, das ich noch sehr oft an ihn denken werde, auf meinem Weg in mein eigenes Kumite im Kyokushin Karate.

Der Champ hat für mich Anfänger einmal ganz präzise formuliert WORAUF es im Kampfsport ankommt:“Bist Du bereit alles zu geben? Bist Du bereit den Weg bis zum Ende zu gehen?“

Der Weltmeister gab mir keine Antworten auf meine Fragen. Er schenkte mir die richtigen Fragen! Die Antworten darauf liegen in uns selbst.

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Sie sind die Schätze auf dem Dachboden des Lebens. Doch ist meine Zeit nicht schon vorbei?

Es ist ein normaler Montagmorgen. In Berlin ist es heiter bis wolkig. 4°C, aber ganz ok.
Während ich so am Schreibtisch die Nachrichten der Welt lese, machen mich die Sonnenstrahlen durch die Fenster darauf aufmerksam, das die Zeit für den Frühjahrsputz naht.

Bald werden wieder die Gartenstühle, die Grills entstaubt und hervorgeholt. Zuvor verstauen wir noch schnell den Winter in Kisten oder auf den Dachböden. Das Wort „Dachboden“ steht, in diesem Augenblick mal für die Ecken bei uns zu Hause, in denen wir Dinge verstaut haben vor langer Zeit. Wir wollten sie hervorholen oder uns damit beschäftigen, wenn wir mal wieder Zeit haben. Wenn die Kinder aus dem Haus sind oder spätestens, wenn wir in Rente gehen – natürlich nur, wenn die Gesundheit dann noch mitmacht. Viele gehen dann später „Nordisch walken“. Andere gewinnen auf der Senioren Olympiade die 400m Hürden.

Alles beginnt im Kopf.

Manchmal denke ich bei mir, das einige Menschen den Staub auf diesen Dingen, unbewusst als weiße Haare mit sich tragen.

Die Asche des alten Feuers. Wann ist die richtige Zeit?

„Ich will so bleiben, wie ich bin!“ war eine Werbebotschaft aus den 80/90ern.
„Du darfst!“, war die Antwort!

Für meinen Teil hab ich mich dran gehalten. Immer noch Junggeselle und bei vollem, naturbelassenem Haupthaar – konnte ich mir viel Stress vom Hals halten.

Spaß beiseite.

In der Vergangenheit habe ich mir die Knochen gebrochen, Zähne ausgeschlagen, Muskeln gerissen, Knochen ausgerenkt, zweimal mit den Händen ein Messer abgefangen und eine Bierflasche mit dem Gesicht. Beide Schultern durch Radunfälle angeschlagen und und und…ich war einer von „den wilden Jungs“. Mein damaliger Hausarzt, hat sich mit meinen Eltern geduzt, so oft war ich dort und wurde genäht oder geklammert. Sie waren sich irgendwann mal einig, das mich der Esel im Galopp verloren haben muss. Zum Glück habe ich mich immer vollständig davon erholt.

Also von den Verletzungen. Mit dem Esel von damals bin ich immer noch gut befreundet.

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Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon zu spät??

In meinem Alter in dieser kleinen Kampfsportschule in Berlin-Schöneberg welche, ohne einen einzigen Cent staatlicher Unterstützung über 70 (!!!) Welt- und Europameister hervorgebracht hat, Kyokushin Karate zu trainieren, sprich: Bei Null anzufangen, ähnelt doch sehr einer weiteren „jungenhaften Eselei“.

Doch: Der Mensch braucht Ziele.

Aufgaben auf die er sich konzentrieren kann! Je komplexer eine Aufgabe, desto besser. Mit meinem Training schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe: Erstens habe ich etwas Tolles über das ich schreiben kann und damit andere Menschen unterstütze, zweitens werde ich durch einen echten Shihan, einem Großmeister, einer alten Kampfkunst unterrichtet.

Das fordert alle meine Sinne und bringt mich regelmäßig an die Grenze meiner physischen Kräfte.
Das ist pures Leben! Wenn die Säfte durch den Körper pulsieren und einem das Herz bis zum Hals schlägt und dann das Gefühl von Befriedigung, das sich danach einstellt – ist mit nichts auf der Welt vergleichbar – außer mit Lebensfreude.

Der Mensch darf sich selbst nicht zu Ernst nehmen.

Die Konzentration und Koordination wächst und auch die Sinne schärfen sich langsam; meine Ausdauer hat sich alleine durch das Weglassen von Gewohnheitszigaretten, deutlich verbessert; mein Bewegungsapparat wird geschmeidiger. Ich durchlebe auch grausame Schmerzen, die Schläge und Tritte des Kyokushin Karate sind wirklich furchterregend. Doch das ist für mich nichts im Vergleich dazu, ertragen zu müssen von der Umwelt als „alt und nutzlos“ angesehen zu werden.

Jeder Mensch hat einen Wert und eine Aufgabe in dieser Welt – andernfalls gäbe es sie oder ihn doch nicht, richtig?

Es war nie mein Traum, ein Tennisass, Astronaut, Wissenschaftler, Forscher, Abenteurer, Polizist, Fußballprofi, Kinostar, Arzt, Zirkusclown, Artist, Rechtsanwalt oder Feuerwehrmann zu werden.

Ich wollte das ALLES sein!

Daher entwickelte ich wohl den Wunsch niemals zu altern, so wie der „Highlander“ aus dem alten Film. In meiner, naiven Vorstellung könnte man auf diese Art alles machen und müsste auf keines davon verzichten. Wenn man diesen Weg lebt, hat man keine verstaubten Wünsche auf dem Dachboden liegen, habe ich als junger Mensch gedacht! Doch man verzichtet unbewusst auf viele, viele andere Dinge und verliert mehr als man gewinnt. Das weiß ich jetzt.

Mir ist das Glück zuteil, das ich tatsächlich noch so fit bin, diesen überaus fordernden Leistungssport auszuüben.

Dafür bin ich sehr dankbar.

Es hat für mich ein Umdenken erfordert. Wie ich Euch bereits schrieb, kam mir mein Körper nach dem ersten Training vor, als hätte ich einen schweren Verkehrsunfall gehabt.

Mein Ego wollte nicht das ich weitermache.
Der fieseste Gegner „lebt“ in uns selbst!
Doch es kann nur einen geben!

Dann haben mir auf einmal Leute geschrieben, unbekannte junge oder auch reifere Menschen. Sie sagen, sie fänden es super, was ich mache und sie würden meine kleinen Berichte mit Interesse verfolgen, weil es ihnen einen Moment Abstand schenkt oder Mut fassen lässt. Sie würden positiv beeinflusst dadurch. Mir wurde erzählt, man könne meine Erfahrungen, regelrecht, nachempfinden und man fiebere mit mir mit. Auch erzählten mir einige, das sie nun den Mut fänden auch noch einmal etwas Neues zu wagen.

Es gibt demnach also keine Zeit die „richtig“ ist. Wer das glaubt, wird für immer warten. Das Hier und Jetzt, ist alles, das wir haben. Unser Weg beginnt mit einem Schrei und er endet erst mit unserem letzten Atemzug. DAS ist die Zeit die wir zur Verfügung haben. Es gibt keine Etappen dazwischen.

Das Feuer unter der Asche erwacht.
Es war ja auch nie wirklich aus.
Gut verstaut waren diese Schätze.
Auf dem Dachboden hinter einer dicken Tür.

Holen wir sie doch gemeinsam hervor. Es ist selten zu früh, doch niemals zu spät!

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„Jetzt“ ist die Zeit!

Osu.

Wie es weitergeht erfahrt Ihr Mittwoch! Wo? Nur auf German Fightnews.

 

So long – Euer Uchi-Deshi