Ussyk vereint die vier wichtigen Gürtel
Zugegeben, Oleksandr Ussyk ist eine etwas seltsam anmutende Figur des Boxsports, bei dem ich gestern erstmals Verdacht hegte, dass er vielleicht gar kein Mensch, sondern ein von einer künstlichen Intelligenz gesteuerter Androide ist, die in einem Kampf sich permanent verbessert und stärker und stärker wird. Dazu später aber mehr. Durch den gestrigen Sieg gegen Tyson Fury gewann der Ukrainer in Riad in Saudi-Arabien den letzten wichtigen Titel in seiner Sammlung und vereint damit die vier wichtigsten WM-Titel der Verbände IBF, WBO, WBA und WBC. Daneben hält er noch jenen der IBO.
Ussyk ein G.O.A.T? Unbedingt!
Ussyk steigt somit in eine Riege der unumstrittenen Weltmeister auf und krönte sich so zu einer Legende, dem König des Schwergewichts. GOAT (Greatest of all Time) werden solche Sportler genannt, eine Ehre, die gewissermaßen Muhammad Ali geebnet hatte und nur wenigen Sportlern zuteilwurde. Jetzt gehört der Ukrainer zurecht dazu.
Es gibt Menschen, die meinen zu wissen, Ussyk sei eigentlich gar kein Schwergewichtler, sondern ein aufgemotzter Cruisergewichtler, was aber nur bedingt stimmt. Natürlich stammt er aus dem Cruisergewicht und seine Anfänge in der Königsklasse des Boxens waren alles andere als einfach. Aber Ussyk lernte. Er lernt auch mit heute 37 Jahren und jede Minute. Eine unglaubliche Gabe, die man nur von wenigen Champions kennt. Genau, Ali war meistens so einer, der seine Gegner studierte, ihre Schwachstellen ausmachte und nach Lösungen suchte.
Vom ungeliebten Cruisergewicht ins hippe Schwergewicht
Aber nochmals kurz zurück zum Cruisergewicht. Die unpopuläre Gewichtsklasse gibt es noch gar nicht so lange. Erst im Jahr 1979 hob man sie zwischen dem Halbschwergewicht und Schwergewicht aus der Taufe. Das Cruisergewicht ist und war immer schon ein Stiefkind zwischen den beiden populären Gewichten gewesen. Dabei boxten namhafte Athleten im Cruisergewicht. Der bekannteste ist aus heutiger Sicht die Legende Roy Jones Jr., der auch aufgrund Gewichtsproblemen jahrelang in dieser Gewichtsklasse und nicht mehr im Halbschwergewicht kämpfte.
Oleksandr Ussyk, der gestern mit 105 Kilogramm in den Ring kam und damit 16 Kg leichter als Tyson Fury war, beweist, dass einer wie Ali auch gegen die heutigen Zuchtbullen jenseits der 115 Kg hätten bestehen können.
Eine KI, ein Androide?
Den Gewichts- und Größenunterschied dürfte Ussyk allerdings trotzdem bemerkt haben. Mehr als einmal wurde er durch die schweren Fäuste von Fury durchgerüttelt und in einigen Runden dachte ich sogar, dass er den Kampf nicht stehend erleben würde. Zwar vermochte der Ukrainer die ersten drei Runden knapp zu gewinnen, aber die Runden vier, fünf und sechs gingen dagegen deutlicher an den Briten. Hier war ich mir fast sicher, dass Ussyk seinen Meister nun gefunden haben dürfte. Aber hier kommt wieder die KI bzw. der Androide Ussyk ins Spiel. Die Runde achte war zwar wieder knapp, aber Ussyk war da und ich gab sie ihm. Doch er schien in den starken Runden zuvor von Fury seinen Gegner perfekt analysiert zu haben und legte eine neunte Runde hin, die es in sich hatte. Fast um ein Haar hätte er den Briten durch Knockout bezwungen und entwickelte dabei Kräfte, die wie auf Knopfdruck irgendwoher zu kommen schienen. Aber so einfach ist das nicht zu erklären.
Ein unglaublicher Boxer
Ussyk hat einfach diese Schlagkraft, die viel mit seiner Schnelligkeit und seiner unglaublichen Technik zu tun hat. Er ist ein unglaublicher Boxer und natürlich einfach nur ein Mensch, der manchmal sogar etwas unsicher zu wirken scheint. Aber das macht ihn nicht unsympathisch, in einer Welt, in der die größten Hornochsen einen auf weltmännisch tun. Ussyk ist der geblieben, der er immer war. Nie unhöflich, zurückhaltend und manchmal außerhalb des Rings hölzern, was aber viel mit seiner Sprachbarriere zu tun hat. Zwar spricht er mittlerweile etwas besser Englisch, aber es ist immer noch auf dem Niveau, um sich gerade so ein Bier im Pub zu bestellen.
Der Ukrainer, das muss man ehrlich sein, hat etwas erreicht, was vor ihm zuletzt nur der Brite Lennox Lewis geschafft hatte, nämlich unumstrittener Schwergewichtschampion zu werden – Ussyk aber unbesiegt. Sollte er so auch abtreten, was angesichts seines Alters nicht mehr allzu lange dauern dürfte, wird er womöglich als der umstrittenste unumstrittene Schwergewichtschampion aller Zeiten in die Annalen des Boxsports eingehen. Umstritten, weil es immer noch viele Experten und Fans gibt, die dem Ukrainer seinen Ruhm nur schwerlich gönnen können.
Auch wenn ich Kriege und Nationalismus in jeglicher Form zutiefst verabscheue, den Ussyk (verständlicherweise) aufgrund des Krieges hier und da im Ring zur Schau trägt, bin ich schon längst ein großer Bewunderer vom Boxer Oleksandr Ussyk geworden.
Text: Davin